Kurzgeschichten
& Anekdoten

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  Der Schlag  

Jetzt weiß ich, was es heißt, einen Schlag zu haben. Es war noch dunkel draußen, vermutlich mitten in der Nacht. Aus Mangel an anderen Gelegenheiten, und weil ich sowieso kein Bett habe, schlief ich in der Wohnstube auf einem Sofa. Plötzlich gab es eine furchtbare Explosion in der Nachbarschaft. Ich schreckte hoch und saß kerzengerade auf meiner Couch, mein Herz schlug mir bis zum Hals als wäre ich in letzter Sekunde der Steuerfahndung entwischt oder meiner ehemaligen Schwiegermutter, die mit einem Nudelholz hinter mir her war, um mir die Scheidung auszutreiben.  

Entweder war der Blitz irgendwo eingeschlagen oder ein Gastank in die Luft gegangen, vielleicht auch ein Anschlag auf das nahe gelegene Schulungszentrum. Die Teilnehmer sind international gemischt und man kann ja nicht wissen, welchen Zorn die gerade auf unser Sozialsystem haben.  

Ich lauschte konzentriert, ob nicht schon die Signalhörner der Feuerwehr, der Polizei und der Rettung zu hören waren. Auch auf näher kommende Hubschraubergeräusche stellte ich mich ein.  

Eine zweite heftige Detonation mit einem grellen Lichtblitz, der sogar durch meinen Vorhang zu sehen war, riss mich aus meiner Konzentration.  

Ich befürchtete eine schlimme Katastrophe. Ein explodiertes heimliches Böllerlager. Der Meier war schon immer so komisch. Oder ein hochgegangenes Drogenlabor der Russenmafia – mein Gott die Smirnoffs können ja nicht mal Deutsch. Die sollten sich schämen.

Ich stürzte vom Sofa zum Vorhang, komme ins Straucheln, weil ich auf meine Brille trat, die am Abend auf den Boden gefallen war und reiße den Vorhang runter. In dem Moment fallen mir Szenen aus Actionfilmen ein: Weg vom Fenster! Man weiß ja nie.  

Aber neugierig war ich trotzdem und wollte sehn, was sich draußen abspielt. Ich rappelte mich hoch, will aus der Wohnstube raus in den Hausflur und stieß mit meinem Schienbein unterhalb der Kniescheibe an den Couchtisch. Der schoss mit einer Ecke in den TV-Schank und mit einer zweiten Ecke in die Verglasung der Stubentür. Ich schrie kurz auf, rückte alles beiseite und schlich mich nackt auf den Hausflur um einen Blick auf die Katastrophe zu werfen, auf die Trümmer, auf Feuer und blutverschmierte Nachbarn. Ich öffnete das Flurfenster und in dem Moment gab es einen Windzug. In meiner Wohnung klirrte etwas und dann fiel mit einem weiteren Schlag die Wohnungstür ins Schloss. Und dann schalmeiten krähende Frauenstimmen von draußen, ganz in der Nähe: „Happy Birthday to you! Happy Birtday to you! Happy Birthday lieb…“ Leider verstand ich den Namen nicht, weil mein Etagen-Nachbar gerade seine Wohnung verlassen wollte. Ich stand da, wie ein Geist, der gerade durch das Fenster herein gestiegen war. Blass, nackt, verstört. Ich bedeckte mich notdürftig mit dem Fußabstreifer von meinem Wohnungseingang und erklärte ihm, dass ich nachtwandle und den Schlüsseldienst bräuchte. Er schüttelte nur den Kopf und der Typ vom Schlüsseldienst kam vor lachen nicht dazu meine Tür zu öffnen.  

Gut, dass ich ein starkes Herz und gute Nerven habe sonst hätte mich die morgentliche Geburtstagsböllerattacke ins Spital gebracht. Happy Birthday lieber Nachbar zum 60sten.

 

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