Kurzgeschichten
& Anekdoten

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Die Fließen-Lernemethode   

Eselsbrücken sind eine geniale Erfindung des menschlichen Geistes. Man muß nur wissen, von welcher Seite aus man die Brücke betritt. Nehmen wir zum Beispiel die griechischen Begriffe ‚hyper' und ‚hypo', was so viel bedeutet wie über und unter. Sie sind Bestandteil zahlreicher medizinischer Fachausdrücke, die ich während meiner Ausbildung zum Arzneimittelvertreter lernen mußte. Ich ersann nun folgende Idiotenbrücke: Bei hyper springt sie drüber, bei hypo landet sie auf dem Po. Dabei stellte ich mir eine attraktive langbeinige Stabhochspringerin in aerodynamisch perfekter Sportkleidung vor, mit der ich recht gerne einen Kaffee trinken und einige Worte wechseln würde. Nun ja, von was träumt man nicht alles, wenn man in ein gewisses Alter kommt. Jedenfalls hatte ich das ideale Bild für eine Gedächtnisbrücke.  

In den Folgetagen kam es allerdings zu einer Reizüberflutung. Mein Gedankenfluss trat über die Ufer und zerstörte auf geheimnisvolle Weise meine Brücke. Als ich mich nämlich an die Begriffe ‚hyper' und ‚hypo' wieder erinnern wollte, fiel mir lediglich die Stabhochspringerin ein. Ich saß mit ihr in einem Cafe und streichelte ihren schmerzenden Hintern. Wie dieses Bild mit den griechischen Begriffen zusammenhing, konnte ich nicht mehr nachvollziehen. Eselsbrücken sind für mich eben nicht besonders hilfreich. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich mit sturem auswendig lernen auf die Prüfung vorzubereiten.  

So saß ich nun in meinem angemieteten Studierzimmer, in einem Lehnstuhl aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts, an einem Tisch gleichen Kaufdatums mit dem dicken Mutschler drauf, dem neunhundertseitigen Lehrbuch der Pharmakologie, daneben ein Arbeitsblatt und hinter mir stand auf wackeligen Beinen ein Alte-Oma-Wohnzimmer-Schrank, in dem ich vier Pfund Kaffee, ein halbes Dutzend Schokolade, Kekse und Baldriantropfen verstaut hatte.  

"Nennen Sie die Symptome der Entzündung!", stand auf dem Arbeitsblatt. Meine Antwort dazu lautete: "Keine Ahnung." Die richtige Antwort wäre gewesen: "Rubor, Tumor, Calor, Dolor und Functio leasa", was nichts weiter bedeutet als Rötung, Schwellung, Wärme, Schmerz und Funktionsstörung. Ich wiederholte im Gedanken die Worte vier, fünf Mal, dann mußte ich auf Toilette und DAS war nun ein Zufall, der meine komplette Lernstrategie verändern sollte.  

Als ich auf dem WC saß, hatte ich drei der fünf Begriffe bereits vergessen. Nachsehen konnte ich in diesem Moment nicht. Aber wie wäre es, wenn ich mir die Begriffe auf den Waschbeckenrand schreiben würde. Ich könnte bei jedem Gang zur Toilette die Begriffe wiederholen und wenn nötig nachlesen. So würde ich ganz nebenher tote Zeit für wertvolle Wiederholungen nutzen.  

Ich notierte also die Begriffe auf den Waschbeckenrand, ging in mein Zimmer zurück und laß zur Abwechslung einige Seiten des Thrillers "Das lernst Du nie". Alsbald drückte mir wieder die Blase und schon bevor ich im Badezimmer anlangte, fielen mir die Worte ein, die ich dort auf das Waschbecken geschrieben hatte: Rubor, Tumor, Calor, Dolor, Functio laesa. Es war ein Gefühl des Glücks und der Freude, mich an so etwas zu erinnern. Scheinbar mühelos. Nur noch die Bekanntschaft einer langbeinigen Stabhochspringerin würde diese Glücksgefühle übertreffen.  

Angespornt durch diesen Erfolg schrieb ich nun die Worte ‚hyper = über' und ‚hypo = unter' auf den Spiegel über dem Waschbecken. Und als ich mir eine dreiviertel Stunde später meine Schokoladenfinger waschen wollte, wußte ich sofort, was mich auf dem Spiegel erwartete. Nach diesem Erfolg baute ich die Methode aus. Ich beschriftete zunächst den kompletten Spiegel, danach das untere Waschbecken, den Toilettendeckel, die untere Klobrille, die komplette Kloschüssel, die Wand der Duschkabine, die Badezimmer-Innentür und zuletzt alle Wand-, Boden-, und Deckenfliesen.  

Nach drei Wochen ergab sich folgende Prozedur. Bevor ich ins Badezimmer ging überlegte ich, was auf der Innentür stand, danach ging ich im Geist zum Spiegel und zu allen anderen Ausstattungen des Bades. Nur vor Verrichtung eines gewissen Bedürfnisses unterließ ich dieses Verfahren. Ich stand einmal vor dem Badezimmer und mir fiel die Bedeutung des Begriffes Diurese nicht mehr ein. So suchte ich zwanzig Minuten lang, die Stelle, die mir die Antwort lieferte. Es stand am hinteren Toilettenrand. Es bedeutet so viel wie ‚Wasser lassen' aber da war es auch schon zu spät. Ich hatte in die Hose gepinkelt. Nun, was soll`s. Nichts ist perfekt.  

Eine Woche vor der Prüfung verbrachte ich nun täglich zirka acht Stunden im Badezimmer, weil ich mich fünf mal rasierte, mir dreißig mal die Blase oder der Darm drückte, ich fünfundzwanzig mal die Hände wusch und sechs bis acht mal die Zähne putzte. Aus dem stillen Örtchen wurde ein Ort des Lernens. Es war eine reine Freude und so war es kein Wunder, dass ich die Prüfung locker mit einem ‚Gut' in fünf Fächern bestand.  

Einen kleinen Nachteil hat diese Lernmethode allerdings. Als ich mein vorrübergehendes Lernzimmer wieder verlassen mußte, sollte ich das Ba in dem Zustand übergeben, in dem ich es vorgefunden hatte - also ohne kalligraphische Kunstwerke. Dummerweise hatte ich alle Notizen mit einem Permanent-Marker vorgenommen. So blieb mir die Plage, das Badezimmer in mühevoller Kleinarbeit zu restaurieren. Lernen ist eben doch eine schweißtreibende, humorlose Angelegenheit.

 

 

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