Kurzgeschichten
& Anekdoten

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Die Kaffeeschokolade

Mein Sohn war auf dem Weg erwachsen zu werden. Das erste Mal auf Klassenfahrt. Drei lange Tage ohne Spaß mit Papa. Keine witzigen Ketchupflecken auf dem Tisch, kein fröhliches daneben pinkeln und kein amüsantes Aufstehen mit Mir-ist-so-kalt-Rufen. Das fehlt ihm ganz sicher. Mein armer Junge.  

Stattdessen pädagogische Begleitung, die den hilflosen Eltern einen Brief geschickt hatte. In ihm teilte sie mit, dass der Spross Zahnbürste, Handtuch, Gummistiefel, Sportschuhe, Federmappe, zwei paar Hosen, T-Shirts, Unterwäsche und Impfausweis mitzunehmen habe. Ferner waren maximal 20 Euro Taschengeld erlaubt sowie ein Kuscheltier. Untersagt waren elektronischen Geräte und Handy, da die Kinder nach dem ersten Telefonat Heimweh bekämen und nicht durchhalten würden. Sollte etwas passieren riefe man an. Ich wischte mir eine Träne aus den Augen. Das arme Kind.  

Natürlich habe ich alles vorschriftsmäßig gepackt und darüber hinaus auch etwas Reiseproviant in den Rucksack meines erwachsen werdenden Kindes verstaut: gesunde Keks, Gummibärchen und eine weiße Schokolade mit dunklen Flecken sowie Bio-Eistee. Mein Junge sollte ja in anderthalb Stunden Busfahrt nicht verhungern.  

Drei lange Tage vergingen, in denen sich Eltern heimlich trafen, um sich bei einer Kiste Wein gegenseitig zu trösten. Am dritten Tag sollten die um Jahre gereiften Kinder gegen 13.30 Uhr an der Schule abgeholt werden. Ich ging ab 10 spazieren und kam zufällig alle fünf Minuten an der Schule vorbei. Unterwegs sah ich auf der anderen Straßenseite die Mutter von Leoni mit tiefen Augenrändern und gesenktem Blick. Die dumme Gans geht tatsächlich um die Uhrzeit schon zur Schule. Das würde mir nie einfallen.  

Gegen 13.20 Uhr mischte ich mich unter die wartenden Mamis und Papis. Die Meyer erzählte gerade, dass sie kaum etwas essen konnte und die Böhm war im Urlaub, hatte aber keinerlei Freude, weil sie im Gedanken nur bei ihrem Lukas war. Pah, die stellen sich an als wären ihre Kinder entführt worden. Ich hatte lediglich bis vorhin eine Grippe. Sonst nichts. Plötzlich tauchte der Bus auf, in dem Kinder an den Scheiben klebten und winkten. Einige Mütter schrien hysterisch die Namen ihrer Kinder. Als mein lieber Junge in der Bustür auftauchte schrie ich ebenfalls. Woher sollte er auch wissen, dass ich da bin. Ich drückte ihn und wirbelte ihn in der Luft herum. Mein Kind ist wieder da. Ich war glaube der einzige, der sich normal freute. Die anderen übertrieben es ziemlich.  

Als ich gehen wollte rief aus der Ferne die Lehrerin: „Herr Neumann, ich muss sie mal kurz sprechen!“
Na bravo. „Hast du was angestellt? Dann sag es mir … jetzt bitte!“, forderte ich mein Früchtchen auf.
„Nein, Papa, aber die Frau Lehrerin hat mir die Schokolade weggenommen.“
Ich verstand nicht. Aber zur Erklärung war mittlerweile die Frau Lehrerin an mich heran getreten.

„Also Herr Neumann, ich habe ihrem Sohn die Schokolade abgenommen. Sie hätten da schon besser schauen können. Da ist dunkle Schokolade mit Kaffee drin. So etwas ist bei uns nicht erwünscht. Das können sie ihrem Kind zu Hause geben aber ich muss ihnen sagen, dass ich das sehr bedenklich finde. Koffein ist für Kinder dieses Alters vollkommen ungeeignet. Sie bekommen davon Schlafstörungen, sind nunmehr aufgedreht, stören dann die anderen, neigen zu Gewalttätigkeiten, können sich nicht mehr konzentrieren. Darüber hinaus ist der Kreislauf des Kindes enorm überfordert. Das kleine Herz kann das auch noch gar nicht verkraften. Das Kind fängt an zu zittern und zu schwitzen und kippt am Ende um. Also ich kann dafür die Verantwortung nicht übernehmen.“ Daraufhin händigte sie mir die Schokolade aus und ging.  

Ich war sprachlos, betäubt, Schach matt in einem Zug. Mit so etwas habe ich nicht gerechnet. Wenn ich mit etwas nicht rechne, fehlen mir momentan die passenden Worte und Reaktionen. Das kommt erst später, nach einigen Stunden Inkubationszeit.  

Ich verließ schweigend, als Rabenvater gebrandmarkt, den Schulhof. Ich hätte mein Kind fast vergiftet. Es überlebte die Klassenfahrt nur aufgrund der hohen Wachsamkeit des pädagogischen Personals.  

Zu Hause versuchte ich herauszufinden, wie viel Kaffee in der Schokolade drin ist. Immerhin bestand sie größten Teils aus weißer Schokolade. Lediglich die Flecken waren dunkel. Schließlich schrieb ich in meiner Verzweiflung den Hersteller an. Mit der Bitte um Auskunft, wie viel Kaffee in der Schokolade sei und ob die Menge einer Tafel für ein 9-jähriges Kind schädlich sei. Ich bekam auch Antwort.  

„Sehr geehrter Herr Neumann! Eine 200g Tafel enthält insgesamt 3,6 g Kaffeepulver, wobei sich der Kaffee nur in der dunklen Schokolade befindet. Da eine 200g Tafel aus 30 Stücken besteht, macht das 0,12g Kaffeepulver pro Stück. Bedenkt man, dass in 100 g Kaffeepulver 1280 mg Coffein enthalten sind, so macht das einen Coffeingehalt von 1,54 mg pro Stück aus. Der eingesetzte Kaffee ist daher lediglich als geschmackgebende Komponente zu verstehen. Mit freundlichen Grüßen. Der Hersteller, Abteilung Qualitätsmanagement“  

Aha, also bin ich doch kein Mörder. Ich wollte mich umgehend rehabilitieren, ging zur Schule und legte der Pädagogin triumphierend das Schreiben auf den Tisch.  

„Trotzdem. Ich habe Ihnen meine Meinung dazu gesagt. Dem habe ich nichts hinzuzufügen!“, entgegnete mir die kluge Frau, stand auf und ging. Schach matt in einem Zug. Lehrer sind eben unschlagbar.

 

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